Überregulierung abbauen – Wachstumspotenziale nutzen
IHK-Präsident Ulrich Caspar zu den Herausforderungen in Frankfurt am Main
Herr Caspar, Ihre sprichwörtlichen ersten einhundert Tage als Präsident der IHK Frankfurt am Main sind vorüber. Sie waren zuvor schon Mitglied der Vollversammlung und wurden mit überwältigender Mehrheit ohne Gegenkandidaten in das neue Amt gewählt. Bei welchen Themen ist Ihnen die Kontinuität mit Ihrem Vorgänger Mathias Müller wichtig, wo möchten Sie neue Akzente setzen?
Mein Vorgänger hat sich sehr verdient gemacht um das Zusammenwachsen der Metropolregion Frankfurt RheinMain. Diese Erfolge müssen weitergeführt werden. Ich sehe meine Schwerpunkte auch bei den Themen Baulandausweisung für Gewerbegebiete und Wohnraum für Fachkräfte, beim Ringen um einen schlüssigen Gesamtverkehrsplan in Frankfurt und bei der Digitalisierung – sowohl bei der Unterstützung unserer Mitgliedsunternehmen wie auch bei der IHK selber.
Bezahlbarer Wohnraum bzw. sozialer Wohnraum wurde lange Zeit als ein kommunales Thema, wenn nicht als eine Angelegenheit des freien Marktes betrachtet. Jetzt steht „bezahlbarer Wohnraum“ auch auf der Agenda der Wirtschaft. Die Wohnungswirtschaft prägt Ihre berufliche Tätigkeit und schließt auch Ihr Aufsichtsratsmandat bei der Nassauischen Heimstätte ein. Die Handlungsnotwendigkeiten sind unbestritten, wo sehen Sie Lösungsansätze in und um Frankfurt?
Unsere Mitgliedsunternehmen wünschen sich bezahlbaren Wohnraum für ihre Fachkräfte, auf die sie dringend angewiesen sind. Die aktuellen Preise für Wohnen gehen ja auf das Auseinanderdriften von Angebot und Nachfrage zurück: Es gibt schlicht zu wenige Wohnungen bei zu großem Bedarf. Die Kommunen müssen mehr Baurecht geben: Nachverdichten, aufstocken und mehr Bauland ausweisen. Hier ist die gesamte Region gefragt, die ja vom Boom um Frankfurt profitiert. Die Stadt alleine kann das nicht stemmen.
Steht die Ausweisung von Wohnbauflächen in Konkurrenz zum Flächenbedarf der Wirtschaft? Ist eine Balance machbar oder halten Sie eine Abwanderung in das Umland für unvermeidlich?
Der Flächenbedarf für Gewerbe und Industrie steht gleichberechtigt neben dem Bedarf nach Wohnraum – schließlich sind es die Unternehmen, die die Arbeitsplätze sichern und den Wohlstand der Region bewirken. Das Stadtentwicklungskonzept der Stadt Frankfurt ist ein Schritt in die richtige Richtung – ohne Gesamtplan kann man bei den wesentlichen kommunalen Problemstellungen, der Wohn- und Verkehrsinfrastruktur, keine Lösungen erreichen.
Frankfurt als Einpendlerstadt ist auf eine funktionierende Verkehrsinfrastrukturangewiesen. Welche Notwendigkeiten und Möglichkeiten sehen Sie beim Ausbau des ÖPNV?
Wir brauchen dringend die Regionaltangente West, die seit Jahrzehnten auf sich warten lässt. Wir wünschen uns auch, dass diese Strecke Teilstück eines S-Bahn-Rings um Frankfurt wird, um den Hauptbahnhof/U-Bahn-A-Strecke zu entlasten. Für den innerstädtischen Radverkehr wären attraktive Schnellverbindungen notwendig, statt diese zulasten von Lkw-/Pkw-Fahrspurenneben dem Autoverkehr entlang zu führen. Die Bedeutung eines Gesamtverkehrsplans, der das gestiegene Verkehrsbedürfnis in Frankfurt berücksichtigt, kann gar nicht genug betont werden.
Zumindest in der öffentlichen Diskussion steht das Thema der Integration von Geflüchteten nicht mehr zentral im Fokus, sondern ist in eine Art Arbeitsmodus übergegangen. Sehen Sie eine realistische Möglichkeit, diese Gruppe als Fachkräfte zu gewinnen?
Ja, in unserer Region kann man sagen: Wir haben das geschafft! Zahlreiche IHK-Mitgliedsunternehmen sind dabei, Geflüchtete dual auszubilden. Dabei werden Erfolge verbucht, aber es geht langsamer voran, als man 2015 gehofft hatte. Schlüssel zur erfolgreichen Integration in den Arbeitsmarkt sind ordentliche Deutschkenntnisse, die zu erlangen Zeit dauert. Das gilt auch für stark manuell geprägte Berufe, bei denen man das auf den ersten Blick nichtannimmt; wenn aber Sicherheitsanweisungen verstanden werden müssen, ist klar, wie wichtig Deutschkenntnisse sind. Wir brauchen also einen langen Atem.
Bei der Fachkräftesicherung geht es auch um bessere Beschäftigungsmöglichkeiten für (Allein-) Erziehende. Ohne gesicherte Kinderbetreuung – auch in einem größeren Zeitrahmen – steht dieses Potenzial nur eingeschränkt zur Verfügung.
„Unternehmen sind zunehmend flexibel geworden bei den Bewerbern auf Ausbildungsplätze.“
Der Fachkräftemangel schränkt die Entwicklung vieler Unternehmen ein. Eltern, die bei hervorragender Ausbildung gar nicht oder sehr eingeschränkt arbeiten, sind eine wichtige Ressource, um vakante Stellen besetzen zu können. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss also sichergestellt sein. Das gilt für die Unternehmen, die in ihren Arbeitsmodellen noch flexibler werden müssen, genauso wie für die Kommunen, die das Betreuungsangebot aufstocken sollten.
Die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Frankfurt und der Arbeitsagentur ist für viele Betriebe eine Selbstverständlichkeit. Nicht immer gelingt es aber, den Wunschbewerber für einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle zu finden. Ermutigen Sie Arbeitgeber, auch Alternativen zu finden und für Kandidaten der zweiten Wahl offen zu sein?
Unternehmen sind zunehmend flexibel geworden bei den Bewerbern auf Ausbildungsplätze. Sie möchten ihre Fachkräfte selber ausbilden, weil sie sie dringend im Betrieb benötigen. Bei abnehmenden Bewerberzahlen bekommen auch schwächere Schulabgänger Chancen, weil die Unternehmen gewillt sind, Auszubildende gezielt zu fördern und nachzuschulen. Wichtig bleibt die Motivation, die wollen die Unternehmen schon sehen.
Die Beschäftigtenzahlen sind auf dem Höchststand, die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Niveau, das Steueraufkommen erreicht Höchstwerte. Dennoch herrscht ein Gefühl der Verunsicherung und der Wandel wird als Bedrohung wahrgenommen. Sollte nicht die Zuversicht dominieren?
Ein Hochtechnologieland wie Deutschland kann von der Digitalisierung nur profitieren. Es muss dabei aber die Nase vorne haben. Hier sehe ich die eigentliche Gefahr, nämlich, dass wir die Digitalisierung nicht energisch genug gestalten. Wir brauchen dringend einen Abbau unserer Überregulierung und Bürokratie, die uns viel an Wachstumspotenzialen wegnimmt.

Ulrich Caspar, 1956 in Frankfurt am Main geboren, verheiratet und Vater von vier Kindern, ist in der Nachfolge von Prof. Dr. Mathias Müller der neue Präsident der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main. Der 62-jährige Dipl.-Betriebswirt war von 2003 bis Januar 2019 Mitglied des Hessischen Landtags und Abgeordneter des Umlandverbands Frankfurt, er engagierte sich in der Stadtpolitik als Stadtbezirksvorsteher, Ortsbeiratsmitglied, Ortsvorsteher und ehrenamtlicher Stadtrat. Ulrich Caspar hat sein Unternehmen Econoconsultations Immobilien- und Unternehmensberatungsgesellschaft mbH 1981 gegründet. Zu seinen beruflichen Erfahrungen zählen außerdem kaufmännische Tätigkeiten bei Wohnungsunternehmen und Projektentwicklern, als Bankdirektor im Geschäftsbereich Immobilien sowie Aufsichtsratstätigkeiten, u.a. bei ABG Frankfurt Holding, FES Frankfurter Entsorgungs- und Service GmbH, Rhein-Main-Verkehrsverbund-Service-GmbH, ICF Bank AG und Nassauische Heimstätte.