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Ukraine: Humanitäre ­Aufgaben bewältigen und die Potenziale für den Arbeitsmarkt nutzen Von Dr. Carola Burkert, IAB Hessen

Die Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten aus der Ukraine ist eine Herausforderung für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – aber es können sich auch Chancen aus dieser Integration für Geflüchtete und die deutsche Volkswirtschaft ergeben.

Krieg in der Ukraine: Nachhaltiger Einfluss auf das Migrationsgeschehen und das Arbeitskräfteangebot

Bis Ende November 2022 wurden in Deutschland rund 1,03 Mio. Personen aus der Ukraine im Ausländerzentralregister registriert. Auf Hessen entfielen davon rund 80.600 (8%). Die tatsächliche Zahl könnte abweichen, denn erstens werden nicht alle Personen nach ihrer Einreise registriert und zweitens kann eine Weiterreise bzw. Rückkehr in Ukraine erfolgt sein. Diese Fluchtmigration erhöht auch das Arbeitskräfteangebot in Deutschland. Die quantitative Wirkung auf den Arbeitsmarkt hängt wesentlich vom Fortgang der Ereignisse in der Ukraine ab und ist mit einer großen Unsicherheit behaftet. Ein denkbares Szenario ist eine weitere Abnahme und damit ein Einpendeln der Fluchtzuwanderung auf niedrigem Niveau. Doch weitere nicht auszuschließende Szenarien sind Rückmigration oder Familiennachzug sowie eine Eskalation des Krieges mit einem erneuten starken Anstieg der Fluchtmigration. Der ungewisse Kriegsverlauf und die rechtlichen Rahmenbedingungen prägen die Lebensbedingungen und Bleibeabsichten von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern: 37 % beabsichtigen für immer oder mehrere Jahre in Deutschland zu bleiben, 34 % bis Kriegsende, 27 % sind noch unentschieden und 2 % planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen. Trotz der Ungewissheiten über die Aufenthaltsdauer in Deutschland und den Umfang der Rückkehrmigration ist es wahrscheinlich, dass diese Geflüchteten einen nachhaltigen Einfluss auf das Migrationsgeschehen und somit auch den Arbeitsmarkt haben werden.

Integrationsperspektiven abhängig von Demografie, Qualifikation, Bleibeabsichten, rechtlichen Rahmenbedingungen und Integrationsförderung

Zunächst ist die humanitäre Aufgabe zu bewältigen: Sicherheit, Unterbringung und Gesundheitsversorgung. Bedingt durch die demografische Struktur, steht die Einschulung und die Betreuung von Kindern im Vordergrund.

Für die Integrationsperspektiven am Arbeitsmarkts spielen erstens die Struktur der Demografie und der Bildung eine Rolle. Das Ausreiseverbot für Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren in der Ukraine und die offenen Grenzen innerhalb der EU führten zu einer anderen Struktur der Migration als 2015. So sind rund 35% der Geflüchteten aus der Ukraine in Hessen Kinder und Jugendliche (teilweise unbegleitet) und knapp 72% der erwachsenen Geflüchteten in Hessen sind Frauen, viele sind ohne Partner nach Deutschland gekommen. Im internationalen Vergleich verfügt die Bevölkerung in der Ukraine über ein hohes Bildungsniveau und einen hohen formalen Qualifikationsstand. Allerdings gibt es Unsicherheiten bei der Übertragbarkeit dieser in der Ukraine erworbenen Qualifikationen in Bezug auf die Verwertbarkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Zweitens beeinflussen die Erwartungen über die Aufenthaltsdauer und die Rückkehr die Integrationschancen, z. B. Überlegungen über Investitionen in Sprache und Bildung des Ankunftslandes. Durch die oben erwähnten Heterogenitäten der Bleibeabsichten ist es notwendig und sinnvoll, Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration zu schaffen und gleichzeitig die vorherrschenden Familienkonstellationen (v. a. Mütter mit Kindern; „alleinerziehend“) zu berücksichtigen.

Drittens ermöglichen die rechtlichen Rahmenbedingungen eine gute Ausgangsposition. Mit dem Aufenthaltstitel nach § 24 AufenthG ist der vollständige Zugang für Geflüchtete aus der Ukraine zum Arbeitsmarkt grundsätzlich geöffnet und unterliegt somit keinen Restriktionen wie beispielsweise Wartezeiten oder Qualifikationsanforderungen.

Ein frühzeitiger Kontakt zu den Jobcentern ermöglicht die Einbindung der Geflüchteten in den Rechtskreis SGB II (seit 01.06.2022) und eine frühzeitige Integrationsförderung. Wichtig sind die Zuteilung bzw. der frühzeitige Besuch von Sprachkursen (insbesondere Berufssprachkursen) und die Unterstützung bei der Arbeitssuche und -vermittlung. Eine Beratung zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen und umfassende Bildungs- und Weiterbildungsangebote sind unerlässlich für eine qualifikationsadäquate Arbeitsmarktpartizipation.

Aktuelle Arbeitsmarktintegration

Seit 01.06.2022 können geflüchtete Personen aus der Ukraine bei Hilfsbedürftigkeit Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II erhalten. Diese Entwicklung wird nun auch zunehmend in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sichtbar. Allerdings ist die Berichterstattung momentan qualitativ noch eingeschränkt, beispielsweise sind Auswertungen bezüglich der Berufsausbildung nicht möglich.

Bei den Agenturen und Jobcentern in Hessen waren im November 2022 rund 36.000 erwerbsfähige Personen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit registriert. Im Vergleich zum Stichtag Februar, und damit vor Ausbruch des Krieges, waren dies 34.600 mehr.

Als arbeitslos waren zum Stichtag im November 16.300 Personen registriert, nahezu vollständig im SGB II. Gegenüber Februar 2022 sind es damit 15.800 mehr. Im Vergleich zum Oktober ist die Arbeitslosigkeit ukrainischer Staatsangehöriger leicht gesunken (-256). Das liegt zum einen daran, dass inzwischen deutlich weniger neue ukrainische Geflüchtete registriert werden. Und zum anderen nehmen registrierte ukrainische Flüchtlinge zunehmend an Integrations- und Sprachkursen teil. Während der Teilnahme stehen sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung und werden folglich nicht als arbeitslos gezählt. Knapp 19.600 ukrainische Staatsangehörige waren im November bei den Jobcentern und Agenturen für Arbeit in Hessen zwar registriert, aber nicht arbeitslos gemeldet. Die Gründe für Nichtarbeitslosigkeit sind häufig Erziehung von Kindern unter 3 Jahren, die Pflege von Angehörigen, der Besuch einer Schule oder Universität, die Teilnahme an einem Integrationskurs oder krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit.

Inzwischen konnten viele Geflüchtete aus der Ukraine eine Beschäftigung finden. Nach vorläufigen Hochrechnungen (September 2022) sind in Hessen rund 10.900 Personen beschäftigt, das entspricht einem Anstieg von 5.644 seit Kriegsbeginn. Davon üben 80 % (8.700) eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (+4.079 seit Kriegsbeginn) und 20 % (2.200) eine ausschließlich geringfügige Beschäftigung (+ 1.565 seit Kriegsbeginn) aus. Nach ersten bundesweiten repräsentativen Befragungsergebnissen sind 17 % der Personen im erwerbsfähigen Alter erwerbstätig. Die Erwerbstätigkeitswahrscheinlichkeit steigt mit dem Bildungsniveau und sinkt mit den Betreuungsverpflichtungen.

Migration wird bei der Integration gewonnen

Das vergleichswiese hohe Bildungsniveau der Geflüchteten bietet gute Chancen für den Arbeitsmarkt. Um diese Potenziale zu nutzen, sind u. a. folgende Herausforderungen zu beachten. Die gegenwärtige Familienkonstellation der Geflüchteten aus der Ukraine erfordert neue Integrationsstrategien. Die Kinderbetreuung ist eine Vorbedingung für die Arbeitsaufnahme und stellt angesichts der Personalknappheit im Erziehungsbereich eine erhebliche Herausforderung dar. Hilfreich wäre eine Kopplung von Integrationsangeboten mit Betreuungsplätzen. Aus Sicht der Geflüchteten liegen Unterstützungsbedarfe u. a. beim Erlernen der deutschen Sprache und bei der Arbeitssuche. Insgesamt sind Maßnahmen so zu gestalten, dass sie die Arbeitsmarktintegration in Deutschland fördern, aber auch bei der Wiedereingliederung in der Ukraine hilfreich sind («dual intent»).     Stand 17.12.2022

 

Literatur

Hauptmann, A.; Sekou, K.; Konle-Seidl R. (2022): Geflüchtete aus der Ukraine: Integrationsperspektiven in Deutschland. Stellungnahme des IAB zur Anhörung beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am 13.10.2022. (IAB-Stellungnahme 11/2022)

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung u.a. (Hrsg.) (2022): ­Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Flucht, Ankunft und Leben. Nürnberg/Wiesbaden/Berlin.