„Aus Stolpersteinen Brücken bauen“
Qualifikationsadäquate Beschäftigung – ein langer Weg für Geflüchtete

Die gute Nachricht zuerst: In den Deutsch- und Integrationskursen des Frankfurter Trägers „beramí berufliche Integration e. V.“ sind aktuell noch Plätze frei. Ukrainische Geflüchtete, insbesondere die vielen Frauen unter ihnen, haben in der Einrichtung an den Standorten Nibelungenplatz und in der Lindleystraße die Möglichkeit, ohne lange Wartezeiten einen der wesentlichen Stolpersteine bei der Integration in die Gesellschaft und das Arbeitsleben zu überwinden. Fehlende oder zu geringe Kenntnisse der deutschen Sprache betrachten sowohl Experten als auch Praktiker in den Betrieben als das Haupthindernis bei der Aufnahme einer qualifikationsadäquaten Beschäftigung. Ukrainische Geflüchtete gelten im Allgemeinen als gut gebildet und gut ausgebildet. Oft haben sie ein Studium absolviert, das sich an westlichen Standards orientiert. Aber die ukrainische Sprache oder Russisch, in dem viele von ihnen sozialisiert wurden bzw. ein mehr oder minder gut beherrschtes Englisch reichen nicht aus, die guten Möglichkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt auszuschöpfen.
„Berufliche Integration ist der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe.“ Darin sind sich die beiden Geschäftsführerinnen von beramí einig. Irina Lagutova und Andrea Ulrich leiten als Tandem gemeinsam die Einrichtung, die im Jahr 1990 gegründet wurde. Heute arbeiten hier Beschäftigte aus 18 Nationen – fast ausschließlich Frauen. Die Grundüberzeugung des Unternehmens in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins orientiert sich an den drei Begriffen Anerkennung, Respekt und Vielfalt. Mit den Worten der Tandem-Geschäftsführung: „Es bedarf einer Kultur der Anerkennung für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, damit sie ihre Kompetenzen erfolgreich einbringen können.
Integration ist für uns ein Prozess der interkulturellen Verständigung, an dem alle Menschen einer Gesellschaft beteiligt sind. Das Ziel ist die gesellschaftliche Teilhabe aller. Berufliche Integration und die Integration in qualifikationsadäquate Beschäftigung können hierfür Schlüssel sein. Unsere Wirtschaft braucht die Kompetenzen und die Erfahrungen der Zugewanderten und unsere Gesellschaft profitiert von der kulturellen Vielfalt.“
Integration ist für uns ein Prozess der interkulturellen Verständigung, an dem alle Menschen einer Gesellschaft beteiligt sind. Das Ziel ist die gesellschaftliche Teilhabe aller. Berufliche und die Integration in qualifikationsadäquate Beschäftigung können hierfür Schlüssel sein. Unsere Wirtschaft braucht die Kompetenzen und die Erfahrungen der Zugewanderten und unsere Gesellschaft profitiert von der kulturellen Vielfalt.“
Migration, Flucht und Vertreibung sind für beramí kein neues Thema, sondern eine Problematik, in der sich das Team eine langjährige Expertise erarbeitet hat: „Durch Qualifizierung und aktives Empowerment ermutigen wir Zuwander:innen, aus Stolpersteinen Brücken zu bauen, auf denen sie ihren Zielen näher kommen. Hierfür haben wir eine Vielfalt an passgenauen Methoden und Instrumenten zur beruflichen Qualifizierung entwickelt. Wir unterstützen vor allem Frauen mit Migrationsbiografie darin, selbstbewusst und selbstbestimmt ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.“
Durch den Ukrainekrieg und seine anhaltenden, schwer einzuschätzenden Folgen hat das Thema jetzt eine neue Dimension gewonnen. Insbesondere durch seine Ausrichtung auf die Beratung, Begleitung und Betreuung von Frauen ist beramí in der vielfältigen Frankfurter Trägerlandschaft geradezu prädestiniert, sich dieser Personengruppe anzunehmen, die überwiegend aus geflüchteten Frauen besteht.
Exemplarische Erfahrungen: Irina Lagutova
Ihre Lebenswelt kennt Irina Lagutova aus eigener Erfahrung. Sie lebt seit mittlerweile 27 Jahren in der Nähe von Frankfurt und hat ihre ukrainische Heimat mit Familie nach dem Zusammenbruch der UdSSR verlassen, um in Deutschland ihr wirtschaftswissenschaftliches Studium zu beenden – eine junge Frau also mit guten Bildungsvoraussetzungen, wie viele der jetzt angekommenen Ukrainerinnen. Dass unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache eine enorme Hürde und ein Stolperstein sein können, hat Irina Lagutova als direkt Betroffene erfahren. Im Rückblick spricht sie nur noch von einer „großen Herausforderung“. Nach Erreichen der notwendigen Sprachkenntnisse hat sie, bald über eine Bekanntenempfehlung zu beramí gefunden und hier eine Umschulung zur Groß- und Außenhandelskauffrau absolviert. Später hat sie Wirtschaftspädagogik studiert und konnte ihr Studium erfolgreich abschließen. Das war die Voraussetzung für ihre Tätigkeit zunächst als Dozentin bei beramí in den Wirtschaftsfächern, dann hat sie verschiedene Projekte mit konzipiert und geleitet, insbesondere in Qualifizierungsmaßnahmen. 2020 wurde sie gemeinsam mit Andrea Ulrich als Geschäftsführerin bestellt.
Im Rahmen der Arbeit für und mit dem Netzwerk IQ Hessen war Irina Lagutova auch mit der Anerkennung von ausländischen Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen befasst. Bei vielen , u.a. auch syrischen Geflüchteten waren die fehlenden und schwer beizubringenden Dokumente ein Hauptproblem, wie sie sich erinnert. Das sei bei den Ukrainer:innen jetzt anders. Soweit sie ihre Dokumente nicht präsent hätten, könnten diese – kriegsbedingt mit regional unterschiedlichem Ergebnis – nachgefordert werden. Kaum ein ukrainischer Geflüchteter habe keine Berufsausbildung, viele einen akademischen Abschluss. Ihnen attestiert Irina Lagutova Lernfähigkeit, Lernwilligkeit und konzertierte Mitarbeit.
„Vorschaltbegleitung“ speziell für Ukrainerinnen
Erkenntnisbasis für diese Einschätzung ist eine im September 2020 bei beramí gestartete und bis Dezember laufende „Vorschaltbegleitung“ speziell für Ukrainerinnen, die zur Teilnahme an dem Qualifizierungsprogramm NeWStart hinführen soll.
Andrea Ulrich berichtet über die Teilnehmerinnen an dem Vorbereitungskurs: Die Qualifikationen reichen vom Bachelor Graphikdesign, Pharmacy and Industrial Pharmacy – College Junior Degree (deutsches Pendant „PTA“) und Technikerin in Nähproduktion / Leichtindustrie – Spezialist, über Bauingenieurinnen, Lehrerinnen, Psychologin, Betriebswirtschaftlerin und Wirtschaftspädagogin bis hin zur Journalistin, Anwältin, Telekommunikationsingenieurin und Master in Technologie und Design von Lederprodukten. NeWStart selbst ist ein sechsmonatiges Qualifizierungsprogramm mit Workshops, Trainings und berufsqualifizierender Sprachförderung, bedarfsorientierter Beratung und Coaching. Dem ersten Qualifizierungsdurchlauf ab Januar 2023 geht die genannte Vorschaltbegleitung für geflüchtete Frauen aus der Ukraine voran.
Die Vorschaltbegleitung richtet sich an Ukrainerinnen, die an der Qualifizierungsphase interessiert sind, ins Berufsleben in Deutschland einsteigen wollen und im besten Fall bereits an einem Integrationskurs teilnehmen. Ziel ist es, sie auf die Teilnahme an der Qualifizierungsphase schrittweise vorzubereiten. Die Vorschaltbegleitung soll damit eine Brücke zwischen den vor kurzem angekommenen ukrainischen Frauen und dem Wiedereinstieg ins Berufsleben bilden. Am Anfang der Begleitung steht eine Standortbestimmung, auf deren Grundlage die weiteren Schritte erfolgen. Je nach Bedarf stehen anschließend folgende Unterstützungsangebote zur Verfügung:
- Begleitung durch ehrenamtliche Sprachpat:innen: Auf diesem Weg können die Teilnehmerinnen bisher erworbene Deutschkenntnisse anwenden und vertiefen. Durch die „1 zu 1-Begleitung“ wird der Spracherwerb unterstützt und beschleunigt. Die Sprachpat:innen haben zugleich eine Lotsenfunktion für lebenspraktische Fragen. Die Häufigkeit der Treffen stimmt jedes Tandem unter sich ab. Die Sprachpat:innen stehen den Teilnehmerinnen bis zum Ende der Vorschaltbegleitung zur Seite, bei Bedarf auch darüber hinaus. Die Sprachpat:innen wurden aus dem umfangreichen Mentor:innenpool von beramí akquiriert und bringen daher Vorerfahrung in der ehrenamtlichen Begleitung von „Mentees“ mit. Die Projektleitung von NeWStart steht den Pat:innen als Ansprechpartnerin im Begleitprozess zur Verfügung. Sind erste sprachliche Strukturen gelegt, kann niedrigschwellig mit beruflicher Orientierung begonnen werden.
- Orientierungsphase: Während der Orientierungsphase werden Workshops in russischer Sprache und Beratungen in Russisch und Deutsch je nach Bedarf zu folgenden Themen angeboten: Anerkennungsberatung zu den mitgebrachten Berufs- und Bildungsabschlüssen; Grundlagen des deutsches Bildungssystems und Arbeitsmarkts; Kinderbetreuung/ finanzielle Unterstützung, Kommunikation mit dem Jobcenter.
Zunächst war die Vorschaltbegleitung für 5 bis 7 Teilnehmerinnen geplant. Da das Angebot sehr gut angenommen wurde, beteiligten sich schließlich 15 Ukrainerinnen an der Vorschaltbegleitung. Ein Teil von ihnen wird dann voraussichtlich ab Januar 2023 in das sechsmonatige Qualifizierungsprogramm von NeWStart einmünden. Andere Teilnehmerinnen werden zunächst ihren Integrationskurs abschließen und haben dann ab Juli 2023 die Möglichkeit, wieder in NeWStart einzumünden.
NeWStart wird vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration im Rahmen von ESF, dem Frauenreferat der Stadt Frankfurt und der Crespo Foundation gefördert und im Rahmen des NeW Netzwerk Wiedereinstieg umgesetzt.
Die Aktivitäten von beramí sind beispielgebend für vielfältige Initiativen und Projekte sowohl in der Frankfurter „Trägerlandschaft“ als auch beim Jobcenter selbst, in dessen Betreuungsbereich die ukrainischen Geflüchteten seit 01. Juni 2022 gehören. Die klare Zuständigkeit schafft einen Rahmen für Fördermöglichkeiten und stellt zugleich eine Herausforderung dar. Denn es gilt, Qualifikationspotenziale zu erschließen und Bleibeperspektiven zu unterstützen.
Info / Kontakt:
beramí berufliche Integration e. V.
Nibelungenplatz 3
60318 Frankfurt am Main
Tel. 069 / 91 30 10 0
Fax 069 / 91 30 10 33
E-Mail: kontaktberami.de
Internet: www.berami.de