Das große Problem des Fachkräftenachwuchses
Von Dr. Brigitte Scheuerle, Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main, und Florian Schöll, Handwerkskammer Frankfurt Rhein-Main


Krise über Krise: Derzeit scheint es, als habe man nie in unsichereren Zeiten gelebt. Dieses Gefühl wirkt sich auch auf die Nachfrage auf den Ausbildungsmarkt aus. Denn wie könnten angesichts dieser Zeitläufte Schulabgänger und ihre Eltern sicher sein, die richtige Wahl für einen Beruf zu treffen, der einen ein ganzes Leben begleiten soll. Kammern und Ausbildungsunternehmen sind daher aufgerufen, in ihrem Werben um Auszubildende diese Sorge zu nehmen. Denn eines ist sicher und kann von keiner Krise verändert werden: Der Rückgang von jungen Menschen, die eine Arbeit aufnehmen werden. Angesichts der demographischen Entwicklung steht der Wirtschaftsstandort Hessen vor dem großen Problem des fehlenden Fachkräftenachwuchses. Von den derzeit 136.000 fehlenden Fachkräften wird bei lediglich bei 19.000 Personen eine akademische Qualifikation erwartet, hingegen werden 117.000, d. h. 86 Prozent der Personen mit einer beruflichen Qualifikation benötigt. Bis 2035 könnte dieser Anteil auf 90 Prozent steigen.
Ausbildungsunternehmen stehen daher vor herausfordernden Zeiten, und das nicht allein wegen Lieferengpässen oder steigender Energiekosten. Sie sind aufgerufen, ihre Suche nach Nachwuchs und ihre Ausbildungswerbung zu optimieren. Hierfür setzt man am besten bei der Ausbildungsqualität an. Gute Betriebe finden auch jetzt junge, gute Menschen für die Ausbildung. Bereits ein Praktikum, bei dem sich Schülerinnen und Schüler ernst genommen fühlen und mit echten Aufgaben betraut werden, kann hierfür ein gutes Fundament bieten. Auch der Einsatz von Auszubildenden im Programm „Ausbildungsbotschafter“ der Kammern macht in Schulen auf den Betrieb aufmerksam. Immer wichtiger wird es – gerade für männerdominierte Bereiche -, sich auch für junge Frauen zu öffnen. Aber auch die Wahl der richtigen Werbekanäle darf heutzutage nicht unterschätzt werden. Egal, ob eine Fachkraft oder ein Auszubildender gesucht wird: Ein aktueller und aussagekräftiger Online-Auftritt sollte dazu beitragen, die Auffindbarkeit des eigenen Unternehmen zu steigern und sich als interessanter Arbeitgeber darzustellen.
Derzeit führen weitere Herausforderungen in Unternehmen zu teilweise tiefgreifenden Veränderungen: die Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Oft wird übersehen, dass dieser Strukturwandel auch ein Pfund sein kann, das für die Fachkräftewerbung eingesetzt werden kann. Mit der Digitalisierung entstehen neue Produkte, Prozesse und Geschäftsmodelle sowie eine neue Kommunikation und Produktion. Auszubildende können an dieser Veränderung teilnehmen und sie mitgestalten. Die Arbeitswelt wird moderner und braucht die „Digital Natives“. Unternehmen tun gut daran, diese Aspekte in ihrer Ansprache des Nachwuchses einzubauen und sich – natürlich immer mit konkreten, für Außenstehende verständlichen Beispielen aus dem Betriebsalltag – als innovativer Ausbildungsbetrieb darzustellen.
Jugendstudien zeigen, dass junge Menschen vor allem sinnstiftende Einsätze und Arbeit schätzen. Hierbei können die Anstrengungen in den Unternehmen zu mehr Natur- und Klimaschutz, aber auch um verantwortungsvolles Wirtschaften und soziale Gerechtigkeit eine große Rolle spielen. Insofern sind Ausbildungsunternehmen aufgerufen, ihre Ansätze, nachhaltig zu wirtschaften, ihren Schülerpraktikanten und Ausbildungsinteressenten zu vermitteln. Das kann der Beitrag des Unternehmens in der Produktion zum Klimawandel, beim nachhaltigen Einkauf oder ein Azubiprojekt sein, das Prozesse im Unternehmen auf Nachhaltigkeit untersucht. Es empfiehlt sich, die Einbindung von Auszubildenden bei diesem Strukturwandel im Unternehmen auch bereits bei der Werbung online oder in der persönlichen Ansprache herauszustellen.
Längst gibt es nicht mehr den einen stereotypischen Auszubildenden, auf den ein einziges Lehr- und Betreuungskonzept passt. Unterschiedliches Alter und Geschlecht, vielfältige Bildungshintergründe und Muttersprachen führen zu neuen Aufgaben und Herausforderungen in der Aus- und Weiterbildung. Ausbildungsbetriebe wie berufsbildende Einrichtungen haben es mit einer zunehmend heterogenen Zielgruppe, betreuungsintensiveren Auszubildenden und divergierenden Kompetenzen bei steigenden Anforderungen zu tun. Darauf ist zu reagieren, weil keiner der Auszubildenden verloren gegeben werden darf. Schließlich ist die Nachwuchsgewinnung viel aufwändiger als früher. Starke wie schwache Teilnehmer müssen noch stärker als bisher gefördert werden. Hierfür bedarf es aufgeschlossener und kompetenter Ausbilder und Ausbilderinnen sowie Unterstützungsstrukturen.
Auch wenn damit die Berufsausbildung sicherlich anspruchsvoller geworden ist: Wer zukünftig sein Unternehmen mit Fachkräften führen will, kommt daran nicht vorbei. Die Kammern begleiten dabei und bieten zu diesen vielfältigen Herausforderungen mit zahlreichen Workshops und mit individuellen Beratungen professionelle Hilfe an.